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Ausnahmezustand nach Zugunglück

Kategorie: Feuerwehrteam des Jahres - National

Name der Feuerwehr: Freiwillige Feuerwehr Bad Aibling, Bayern

9. Februar 2016, Faschingsdienstag, 06.52 Uhr: Die Meldung, die bei der Integrierten Leitstelle Rosenheim eingeht, hat nichts mit üblichen Einsätzen zum Karneval gemein. „MAN 1“ (10 bis 25 verletzte Personen) lautet das Alarmstichwort nach einem Zugunglück auf der eingleisigen Bahnstrecke im Landkreis Rosenheim zwischen Bad Aibling und Kolbermoor. Zwei Personenzüge waren mit rund 100 km/h kollidiert, die Ursache vermutliche eine Freigabe für den etwas verspäteten Zug aus Bad Aibling. Aufgrund der Kurve im Streckenverlauf konnten die Triebwagenführer den entgegenkommenden Zug nicht sehen.

Zeitgleich mit der Leitstelle Rosenheim wird Alarm bei der Freiwilligen Feuerwehr Kolbermoor ausgelöst. Diese verfügt ebenso über einen Bahnrettungssatz wie die Feuerwehr der kreisfreien Stadt Rosenheim, die nur wenige Minuten später ausrückt.

Extrem schwierige Einsatzbedingungen

Die Unfallstelle befindet sich am Fuß des ca. 70 Meter hohen, steilen und dicht bewaldeten Ghersburgberg und damit auf unwegsamen, abschüssigem Gelände. Sie ist nur über einen schmalen Radweg auf dem Mangfalldamm zu erreichen. Das Bild, das sich Wolfram Höfler, Feuerwehrkommandant Bad Aibling, Kreisbrandmeister, Kreisbrandrat und Notarzt beim Eintreffen am Unfallsort bietet, ist verheerend: Der von Bad Aibling kommende, 107 Meter lange Zug aus Bad Aibling war bis auf zwei Wagen entgleist und hatte sich in den 58 Meter langen Zug aus Kolbermoor gebohrt. Der kürzere Zug war komplett entgleist. Die vorderen Wagen waren aufgerissen und teilweise übereinander getürmt, für das Team war nicht erkennbar, welcher Wagen zu welchem Zug gehörte. Als sich das Team dem Einsatzort nähert, klettern verletzte Personen aus den Trümmerteilen, herausgeschleuderte Menschen liegen neben dem Zug, Hilfeschreie aus allen Richtungen erreichen die Einsatzkräfte. Dem Feuerwehrteam ist sofort klar, dass Erkundungen und Erstrettung parallel erfolgen müssen. Nach der ersten Einschätzung wird der Alarm um 07:08 Uhr auf „MAN 2“ (mehr als 25 Verletzte) erhöht, Lage: ca. 25 Personen im Freien, mehrere Personen noch im Zug, 1 Waggon schwer zerstört.

Kameraden beweisen Mut, Ausdauer und Erfahrung

Als Feuerwehrkommandant Wolfram Höfler seine Kameraden darauf hinweist, dass die Oberleitung der Bahn nicht geerdet ist und somit auch für die Einsatzkräfte Lebensgefahr besteht, stellt er seinem Team frei, sich vom Unfallort fernzuhalten. Keiner der Feuerwehrkameraden Bad Aibling macht davon Gebrauch – alle wollen helfen, arbeiten hochprofessionell und hochkonzentriert. Die bei solchen Einsätzen laut Höfler „als unvermeidlich angesehene Chaosphase“ fällt aus. Kurze Zeit später setzt ein Notfallmanager der Deutschen Bahn gemeinsam mit einer Einsatzkraft der Freiwilligen Feuerwehr Bad Aibling, die in Bahnstromerdung eingewiesen ist, vor und hinter dem Zug Erdungen. Um 07:35 Uhr geht die Bestätigung über Abschaltung und Erdung der Oberleitung an die Leitstelle Rosenheim.

Dennoch sind die Trümmerteile nicht stromlos, das Brummen der Akkumaltoren ist deutlich hörbar. Der enorme Zerstörungsgrad des Zuges macht ein Abschalten zunächst unmöglich. Die Kameraden müssen bei den Rettungsarbeiten weiterhin sehr behutsam vorgehen, um keine Hochspannungsleitungen zu beschädigen. Zudem müssen sie wegen Brandgefahr auf Trennungsschleifer, Autogen-Schneidgerät und Plasmaschneider verzichten – gerade für die Rettung der Schwerverletzten, die in einem Materialmix aus Aluminium, Gusseisen, gehärtetem Stahl, Kunststoffen und Holz eingeklemmt waren, besonders wertvolle Helfer.

Eine noch größere Herausforderung für die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr stellt die Materialversorgung dar: Aufgrund der engen Zugfahrt kommen die Einsatzfahrzeuge nur auf ca. 1,3 km an die Unfallstelle heran. Die Konsequenz: Die Materialversorgung erfolgt zu Fuß, eine extrem kräfteraubende Tätigkeit, die viele Kameraden beim Transport von hydraulischen Rettungsgeräten, Stromerzeugern, Rüsthölzern und Erste-Hilfe-Ausrüstungen an ihre physischen Grenzen bringt.

Herausragende Teamarbeit

16 Einsatzkräfte der Freiwilligen Feuerwehr Bad Aibling von HLF 20, RW 2 und LF 16 arbeiten zunächst an der Rettung der Schwerverletzten und Eingeklemmten. Rettungsplattformen werden aufgebaut und Schneisen in das Gebüsch zwischen Gleis, Damm und verlegten Streckenleitern geschnitten. Die verletzten Personen werden in „schwer“ und „gehfähig“ eingeteilt und zu den jeweiligen Sammelplätzen gebracht. Zum Abstranport stehen MTW und ein Großraum-MTW, extra umgebauter Linienbus, bereit. Die besondere Herausforderung für den Fahrer des Großraum-MTW: Den Bus über eine Strecke von ca. 1,1 km rückwärts über den schmalen Mangfallweg zu rangieren.
Dank der hervorragenden Zusammenarbeit der Einsatzkräfte vor Ort und in der Leitstelle Rosenheim werden frühzeitig Krankenhäuser im südlichen Oberbayern vorgewarnt, Operationskapazitäten frei zu halten. Auch Hilfe von den österreichischen Nachbarn, der deutschen Bundeswehr sowie DLRG, Wasserwacht und THW wird sofort angefordert. Für die Materialversorgung und den Personentransport zu Wasser muss die Fließgeschwindigkeit des Mangfallkanals durch die Schließung des Wehrs reduziert werden. Doch auch mit verminderter Geschwindigkeit birgt der Fluss für die Einsatzkräfte große Gefahren. Die Rettung aus der Luft mittels Winde ist nicht minder anspruchsvoll. Auf engstem Raum arbeiten Feuerwehr, Rettungsdienste und Polizei Hand in Hand.

Die Rettung der letzten, lebend geborgenen Person ist extrem zeitaufwändig und schwierig: Ein 17-jähriger Junge saß im ersten Waggon des aus Rosenheim kommenden Zuges und war unter der aufgerissenen Bodengruppe, mehreren zusammengepressten Sitzreihen und der Außenwand so eingeklemmt, dass anfangs nur ein kleiner Teil seiner Haare zu erkennen ist. Mithilfe hydraulischer Rettungsgeräte kann er nach einer Stunde geborgen werden, sodass um 10:20 Uhr die Meldung erfolgt: „Letzte Person gerettet.“ Die hydraulische Rettungsgeräte, Säbelsägen und Geräte für einfache technische Hilfeleistung der Freiwilligen Feuerwehr Bad Aibling wurden beim Einsatz so sehr beansprucht, dass sie anschließend sofort von der Freiwilligen Feuerwehr Bad Aibling ausgemustert werden mussten.

Anteilnahme deutschlandweit

11 Tote, 24 Schwerverletzte und viele Leichtverletzte – Das Zugunglück in Bayern bewegte Bürgerinnen und Bürger bundesweit. Neben bayerischen Politikern wie Ministerpräsident Horst Seehofer und Innenminister Joachim Herrmann besuchte auch Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt die Unfallstelle noch am gleichen Tag. Zahlreiche Faschingszüge und weitere Karnevalsveranstaltungen wurden abgesagt, Bürgerinnen und Bürger spendeten Speisen und warme Getränke, umfassende Angebote der Seelsorge standen für Einsatzkräfte und Betroffene bereit.
Feuerwehrkommandant Wolfram Höfler selbst setzte die Presse um 11 Uhr ins Bild und sorgte ab diesem Zeitpunkt alle 30 Minuten für ein Update zum weiteren Verlauf der Rettungsaktion sowie zum Zustand von verletzten und vermissten Personen.

Neben der hervorragenden Teamarbeit und Kommunikation unter den Einsatzkräften ist auch die Ferien- und Urlaubszeit dafür verantwortlich, dass nicht mehr Menschen zu Schaden kamen. Ohne die bayerischen Faschingsferien hätten sich in beiden Zügen anstelle von ca. 120 Personen 400 bis 500 Personen befunden.